Ergebnisse
Entwicklung und Erprobung des Erhebungsinstruments
Die Entwicklung und Erprobung des Erhebungsinstruments erfolgte iterativ in zwei Phasen:
- Phase 1: Interviews (mit insgesamt 31 Lehrer*innen; 3 Schulleiter*innen), Beobachtungen und Pre-Tests zur Entwicklung und Prüfung einzelner Indikatoren und Variablen sowie zur Anpassung der Variablen und bereits etablierter Indikatoren an den Kontext Thüringen. Die Ergebnisse der Vorstudien wurden auf Konferenzen und Tagungen vorgestellt und diskutiert. (siehe Reiter Publikationen und Vorträge)
- Phase 2: Erprobung des ganzheitlichen Erhebungsinstruments an (Schwerpunkt-)Schulen durch Fragebögen (Validierung, Wirkungsanalysen) und Fokusgruppeninterviews (Evaluation) [geplant waren 30 (Schwerpunkt-) Schulen, Erprobung konnte an 22 Schulen realisiert werden]
Eine dritte Phase schließt an das WOL-Projekt an: Dissemination in den (Schwerpunkt-)Schulen mithilfe von Workshops zur Schulentwicklung. Diese finden im Herbst und Winter 2022/23 statt.
Das ganzheitliche Erhebungsinstrument wurde an 22 Schulen getestet. 190 Lehrer*innen, 15 Schulleiter*innen, 15 stellvertretende Schulleiter*innen und 784 Schüler*innen nahmen an der schriftlichen Befragung teil.
Beschreibung des Erhebungsinstruments
Ziel des Projektes „Weltoffen Lernen“ war es, auf wissenschaftlicher Basis Schulen ein Evaluationsinstrument zur Verfügung zu stellen, mit dem sie ihren Umgang mit kultureller Diversität evaluieren sowie Weiterentwicklungsmöglichkeiten von Rahmenbedingungen identifizieren können, die das Zugehörigkeitsgefühl (und Kompetenzerleben) aller Schüler*innen fördern und so zu mehr Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit beitragen können. Das WOL-Erhebungsinstrument adressiert die strukturelle, curriculare, interaktionale und individuelle Ebene interkultureller schulischer Kompetenz und basiert auf 2 Modulen:
- Modul 1: Evaluationstool zu schulischer Diversitätskompetenz
- Modul 2: Evaluationstool zur Erhebung interkultureller schulischer Kompetenz
Modul 1: Diversitätsperspektiven
Modul 1 erfasst interkulturelle schulische Kompetenz mit Maßnahmen im Umgang mit Diversität.
Organisationen wie z.B. die Schule und Einzelpersonen, die in diesen Organisationen arbeiten, können Strukturen, die einzelne Gruppen benachteiligen (z.B. Rassismus, Sexismus, Ableismus), entweder verstärken oder reduzieren, je nachdem wie sie Vielfalt wahrnehmen und damit umgehen. In der Schule können z.B. durch die Schulordnung, schulinterne Konzepte und Regelungen aber auch über die persönlichen Sichtweisen von Lehrer*innen unterschiedliche Perspektiven von Vielfalt vermittelt werden. Diese Perspektiven unterscheiden sich in der Art und Weise, wie Vielfalt gesehen wird (z.B. ob Vielfalt geschätzt, ignoriert oder abgelehnt wird), und hinsichtlich des Bewusstseins dafür, wie benachteiligende gesellschaftliche Strukturen mit dem Umgang mit Vielfalt verbunden sind und so Bildungsungerechtigkeiten verstärken oder verringern. Das Ausmaß, in dem Schulen Vielfalt wertschätzen, ignorieren und/oder ablehnen, beeinflusst die Leistungen, die Zugehörigkeit und die Lebenszufriedenheit der Schüler*innen (z. B. Celeste et al., 2019; Schachner et al., 2019). In der wissenschaftlichen Fachliteratur wird zwischen vier Perspektiven unterschieden: der Vielfalt-ablehnenden Perspektive, der Vielfalt-ignorierenden Perspektive, der Vielfalt-wertschätzenden Perspektive und der (Rassismus-) kritischen Perspektive.
Das Selbstevaluierungsinstrument Modul 1 wird in Form eines Lehrer*innenfragebogens durchgeführt, und besteht aus einer Reihe von Beschreibungen kontextspezifischer Praktiken welche auf der Grundlage von Lehrer*innen- und Schulleitungsinterviews sowie Schul- und Unterrichtsbeobachtungen entwickelt wurden. Insgesamt werden 11 ausgewählte schulische Praxisbereiche beschrieben, welche verschiedene Aspekte des Schullebens (z.B. Schulleitung, Lehrer*innen-Schüler*innen Interaktionen, Curriculum) abdecken und die vier Diversitätsperspektiven (Vielfalt-ablehnende, Vielfalt-ignorierende, Vielfalt-wertschätzende und (Rassismus-)kritische Perspektive) beschreiben.
Das Selbstevaluierungsinstrument Modul 1 wurde mit Hilfe von 164 Lehrer*innen und 650 Schüler*innen aus 18 Schulen (3 Gymnasien, 14 Regelschulen, 1 Gesamtschule) evaluiert. Die Ergebnisse zeigen, dass das Selbstevaluierungsinstrument wie erwartet die vier Diversitätsperspektiven (Vielfalt-ablehnende, Vielfalt-ignorierende, Vielfalt-wertschätzende und (Rassismus-)kritische Perspektive) trennscharf erfasst. Zudem konnte gezeigt werden, dass in Schulen, in denen Vielfalt eher abgelehnt wird, Lehrer*innen tendenziell mehr Stress erleben, und Schüler*innen tendenziell eine geringere Lebenszufriedenheit aufweisen und berichten, weniger Unterstützung von ihren Lehrer*innen zu erhalten. Die besten Ergebnisse ergeben sich aber für Schulen, in denen Vielfalt wertgeschätzt und ein (Rassismus-) kritischer Umgang mit Vielfalt gelebt wird. Hier erleben Lehrer*innen weniger Stress und mehr Selbstwirksamkeit, und Schüler*innen berichten tendenziell ein höheres Zugehörigkeitsgefühl zur Schule. Ebenso weisen Schüler*innen an Schulen, deren Normen und Praktiken stärker von Vielfalt-wertschätzenden und (Rassismus-)kritischen Perspektiven geprägt sind, stärkere globale Kompetenzen auf. Das heißt, sie zeigen eine höhere interkulturelle Kompetenz sowie ein stärkeres Bewusstsein für soziale Ungleichheit, und eine stärkere Motivation, sich für mehr soziale Gerechtigkeit einzusetzen und einzugreifen, wenn sie Diskriminierung beobachten.
Das Selbstevaluierungsinstrument Modul 1 steht Schulen jetzt in digitaler Form zur Verfügung und kann genutzt werden, um eine Selbsteinschätzung der schulischen Normen und Praktiken im Umgang mit kultureller Vielfalt abzugeben. Das Ergebnisprofil beinhaltet auch praktische Hinweise, die helfen sollen Schulentwicklungsprozesse in Richtung einer wertschätzenden, rassismuskritischen Schule anzustoßen. Den Zugang zum Selbstevaluierungsinstrument „Modul 1: Diversitätsperspektiven“ finden Sie hier: https://weltoffen-lernen.paedagogik.uni-halle.deExterner Link
Literatur:
- Celeste, L., Baysu, G., Phalet, K., Meeussen, L., & Kende, J. (2019). Can school diversity policies reduce belonging and achievement gaps between minority and majority youth? Multiculturalism, colorblindness, and assimilationism assessed. Personality and Social Psychology Bulletin, 45(11), 1603-1618.
- Schachner, M. K., Schwarzenthal, M., Van De Vijver, F. J., & Noack, P. (2019). How all students can belong and achieve: Effects of the cultural diversity climate amongst students of immigrant and nonimmigrant background in Germany. (4), 703-716
Modul 2: Interkulturelle schulische Kompetenz
Modul 2 erfasst Kompetenzen, Maßnahmen und Praktiken auf der strukturellen, curricularen, interaktionalen und individuellen Ebene, die Schüler*innen (mit Migrationserfahrung) im Schulalltag unterstützen.
Das Modul 2 baut auf theoretisch-konzeptionellen Arbeiten auf (interkulturelle Schulöffnung, interkulturelle organisationale Kompetenz, Gröschke 2011) und berücksichtigt Aspekte der organisationalen Flexibilität, Kooperation, Reflexion und Kommunikation sowie die (globale) Lernorientierung in den Schulen, eine lokal-globale Orientierung des Curriculums (John, 2018). Die strukturelle Ebene beinhaltet Aussagen zur Kooperation, Kontakt zum Elternhaus, Ressourcen, Unterstützungsangebote, Monitoring- und Evaluationsprozessen in Schulen. Die curriculare Ebene adressiert Fragen des kultursensiblen Unterrichts und unterteilt hier in Auswahl und Umgang mit Lehrmaterialien, Instruktion, Lehrpraktiken und Leistungsbewertung. Die interaktionale Ebene fokussiert die Zusammenarbeit im Lehrerkollegium, die Schulleitung als auch außerschulische Aktivitäten. Die individuelle Ebene erfragt Perspektiven auf Diversität und Einstellungen zum Umgang mit Diversität. Die identifizierten Indikatoren schulischer interkultureller Kompetenz tragen zu einem höheren Zugehörigkeitsgefühl von Schüler*innen mit/ohne Migrationshintergrund bei, unterstützen die interkulturelle Kompetenz und das akademische Selbstkonzept von Schüler*innen mit/ohne Migrationshintergrund und erhöhen das Kompetenzerleben von Lehrer*innen im Umgang mit Diversität im Unterricht.
Das Modul kann genutzt werden, um Weiterentwicklungsmöglichkeiten von Maßnahmen und Praktiken auf schulischer Ebene zur Förderung interkultureller Kompetenzen zu identifizieren und nachzuhalten. Schulen erhalten eine Rückmeldung sowohl zu schulspezifischen als auch thüringenspezifischen Daten. Darüber hinaus liefert das Erhebungstool konkrete Hinweise für die schulspezifische Weiterentwicklung an.
Bei Interesse und Fragen zum Tool wenden Sie sich bitte an laura.malik[at]uni-jena.de
Literatur:
- Gröschke, D. (2011). Interkulturelle Kompetenz von Organisationen – Implikationen für ein kompetenzbasiertes Diversity-Management. diversitas, 1, 3-10.
- John, A. (2018). Geschichtsunterricht - eine Schule historischen Denkens, in: Christian Kuchler / Andreas Sommer (Hrsg.): Wirksamer Unterricht (Unterrichtsqualität: Perspektiven von Expertinnen und Experten, 6) Baltmannsweiler 2018, S. 88-98